Teil 6 Der Racheengel

Kapitel Neunzehn

»Das Bett war leer«, erzählte Wayne Turner Betsy. »Lake war weg. Er hatte sein Verschwinden seit dem Tag geplant, an dem er seine Frau und seine Tochter umgebracht hatte. Bis auf eins hat er all seine Bankkonten am Tag nach dem Mord aufgelöst und eine Reihe von Immobilien verkauft. Sein Anwalt wickelte den Verkauf seines Hauses ab. Carstairs behauptete, er wüsste nicht, wo Lake sich aufhielt. Außerdem hätte niemand ihn zwingen können, es zu sagen. Sie wissen, die anwaltliche Schweigepflicht. Wir haben angenommen, dass Carstairs den Auftrag hatte, das Geld auf Konten in der Schweiz oder auf Grand Caymans zu transferieren.«

»Polizeichef O'Malley hat mich sofort angerufen«, erzählte Senator Colby. »Ich war krank. Das Abkommen mit Lake zu unterzeichnen war das Schwerste, was ich in meinem Leben getan habe, aber ich wusste keinen anderen Ausweg. Ich konnte diese Frauen doch nicht sterben lassen. Als O'Malley mir berichtete, dass Lake geflohen war, galt mein einziger Gedanke den unschuldigen Menschen, die ihm jetzt meinetwegen zum Opfer fallen könnten.«

»Warum haben Sie sich nicht an die Öffentlichkeit gewandt?« fragte Betsy. »Sie hätten allen erzählen können, wer Lake war und was er getan hatte.«

»Nur ein paar Leute wussten, dass Lake der Rosenmörder war, und wir mussten aufgrund der Abmachung schweigen.«

»Als die Frauen befreit waren, warum haben Sie nicht gesagt, zum Teufel mit ihm, und sind nicht trotzdem an die Öffentlichkeit gegangen?«

Colby schaute ins Feuer, seine Stimme klang hohl, als er antwortete.

»Wir haben darüber gesprochen, doch wir hatten Angst. Lake hatte gesagt, wenn wir unser Schweigen brechen wurden, werde er aus Rache jemanden umbringen.«

»An die Öffentlichkeit zu treten hätte die Karriere des Senators zerstört«, ergänzte Wayne Turner, »und keiner von uns wollte das. Nur eine Handvoll Personen wusste von der Abmachung und von Lakes Schuld. O'Malley, Gordon, Grimsbo, ich, der Bundesanwalt, der Generalbundesanwalt, Carstairs, Merrill und der Senator. Wir haben selbst dem Bürgermeister nie etwas davon gesagt. Wir wussten, wie couragiert Ray gehandelt hatte, als er die Abmachung unterzeichnete. Wir wollten nicht, dass er deswegen Nachteile hatte. So legten wir den Schwur ab, Ray zu schützen, und den haben wir gehalten.«

»Und Lake haben sie einfach vergessen?«

»Wir haben ihn nie vergessen, Mrs. Tanenbaum«, entgegnete ihr Colby. »Ich habe meine Kontakte zur Polizei von Albany und dem FBI dazu benutzt, nach Lake zu suchen. Nancy Gordons Lebensinhalt ist es, ihn zu finden. Er war zu gerissen für uns.«

»Was haben Sie vor, jetzt, da Sie von dieser Abmachung wissen?« fragte Turner.

»Ich weiß es nicht.«

»Wenn dieses Abkommen und die neuen Morde an die Öffentlichkeit dringen, dann wird Senator Colby nicht bestätigt. Er verliert die Unterstützung der Law-and-Order-Fraktion der Richtervereinigung, und die Liberalen werden ihn kreuzigen. Das wäre dann die Antwort auf ihre Gebete.«

»Das sehe ich ein.«

»An die Öffentlichkeit zu gehen hilft auch ihrem Klienten nicht.«

»Wayne«, warf Colby ein, »Mrs. Tanenbaum muss selbst wissen, was sie mit dem macht, was sie jetzt weiß. Wir können sie nicht unter Druck setzen. Weiß Gott, wie die Dinge liegen, steht sie schon genug unter Druck.«

»Aber«, sagte Colby und wandte sich an Betsy, »ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Ich habe das Gefühl, dass sie die Existenz einer Abmachung vermutet haben?«

»Das stimmt. Ich habe mich gefragt, wie Lake es geschafft hat, in Hunters Point ungeschoren davonzukommen. Eine Zusicherung von Straffreiheit war die einzige Antwort, und nur der Gouverneur von New York kann so etwas genehmigen. Sie konnten die Existenz dieser Abmachung vor der Öffentlichkeit geheim halten, aber die Mitglieder der Sonderkommission mussten davon gewusst haben, und sie waren es, die ihre Belohnung erhielten. Es war die einzige Antwort, die Sinn ergab.«

»Lake weiß nicht, dass Sie hier sind, stimmt's?«

Betsy zögerte einen Moment: »Nein.«

»Und Sie haben ihn auch nicht gefragt, ob er Ihre Vermutung bestätigen kann?«

Betsy schüttelte den Kopf.

»Warum?«

»Erinnern Sie sich an ihre widerstreitenden Gefühle, als Lake Sie um Straffreiheit bat? Stellen Sie sich vor, wie ich mich fühle, Senator. Ich bin eine sehr gute Anwältin. Ich schaffe es, meinen Klienten freizubekommen. Er behauptet, unschuldig zu sein, doch meine Nachforschungen führen dazu, dass ich an seinen Worten zweifle. Bis heute habe ich nicht sicher gewusst, dass Martin lügt. Ich wollte ihn nicht damit konfrontieren, bis ich die Wahrheit kannte.«

»Nun kennen Sie sie, was werden Sie unternehmen?«

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wenn es irgendein anderer Fall wäre, würde es mich nicht kümmern. Ich erledige meine Arbeit und verteidige meinen Klienten. Aber das ist kein Fall. Das ist...«

Betsy verstummte. Was konnte sie sagen, was nicht jeder hier in diesem Raum besser wusste als sie.

»Ich beneide Sie nicht, Mrs. Tanenbaum«, meinte der Senator. »Ich hatte damals keine Wahl, da bin ich mir sicher. Nur aus diesem Grund ist es mir überhaupt möglich, damit zu leben. Und trotzdem bereue ich jedes Mal, wenn ich an die Abmachung denke, was ich getan habe. Sie aber können vor Lake davonlaufen.«

»Dann laufe ich aber auch vor meiner Verantwortung davon, ist es nicht so?«

»Verantwortung«, wiederholte Colby. »Warum bürden wir sie uns auf? Warum laden wir uns Probleme auf, die uns niederdrücken? Wann immer ich an Lake denke, wünsche ich mir, nie ins öffentliche Leben gegangen zu sein. Aber dann denke ich wieder an die guten Seiten und kann weitermachen.“

Der Senator machte eine Pause. Nach einem Moment stand er auf und streckte seine Hand aus. »Es war schön, Sie getroffen zu haben, Mrs. Tanenbaum. Und das meine ich ehrlich.«

»Danke für Ihre Offenheit, Senator.«

»Wayne wird Sie ins Hotel zurückbringen.«

Wayne Turner begleitete Betsy aus dem Raum. Colby sank zurück in seinen Sessel. Er fühlte sich alt und verbraucht. Er wünschte sich, für immer hier vor dem Feuer zu sitzen und all die Verantwortung zu vergessen, von der er gerade gesprochen hatte. Er dachte über Betsy Tanenbaums Verantwortung für ihren Klienten und ihre Verantwortung gegenüber der menschlichen Rasse nach. Wie würde sie damit fertig werden, wenn Lake davonkam? Er würde sie für den Rest ihres Lebens in ihren Träumen verfolgen, so wie ihn diese Sache seit damals verfolgte.

Colby fragte sich, ob die Abmachung an die Öffentlichkeit dringen wurde. Wenn, dann war es mit seiner Karriere vorbei. Der Präsident wurde seine Nominierung zurückziehen, und er würde nie wiedergewählt werden. Seltsamerweise berührte ihn das nicht. Er hatte keinen Einfluss auf Betsy Tanenbaum. Sein Schicksal hing von den Entscheidungen ab, die sie traf.

Auf ewig unvergessen
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